Aus der VersR

Kardinalpflichten und D&O-Versicherung: Ein kardinales Missverständnis? (Korch/Lüttringhaus, VersR 2024, 537)

Unsere Sprache ist reich an Kardinalem: Wir kennen etwa Kardinalfehler, die man insbesondere dann begehen kann, wenn man die Kardinaltugenden nicht achtet. Und auch kardinale Missverständnisse sind uns durchaus geläufig. Womöglich handelt es sich bei der Figur der Kardinalpflichten im versicherungsrechtlichen Kontext um just ein kardinales Missverständnis? 


I. Einleitung
II. Hintergrund und Motivation der Kardinalpflichtenthese
1. Wissentliche Pflichtverletzung
2. Darlegungs- und Beweisschwierigkeiten mangels Bindungswirkung
III. Entwicklungslinien der Kardinalpflichten-Judikatur zur Berufshaftpflichtversicherung
1. Ausgangspunkt: Architekten- und Anwaltshaftpflicht
2. Obiter dictum des BGH zur Insolvenzverwalterhaftung
3. Weitere Rezeption und Ausdifferenzierung
IV. Bedeutung von Kardinalpflichtverletzungen für den Deckungsprozess
1. Umkehr der Darlegungs- und Beweislast
2. Anscheinsbeweis
3. Tatsächliche Vermutung
4. Vertypter Auslöser sekundärer Darlegungslast und „schwächeres Indiz der Lebenserfahrung“
5. Praktische Auswirkungen im Deckungsprozess
V. Übertragbarkeit der Kardinalpflichtenthese auf die D&O-Versicherung
1. Berufsbild und Kardinalpflichten der Geschäftsleiter
a) Kein einheitliches Berufsbild des Geschäftsleiters
b) Kardinalpflichten im Gesellschaftsrecht
2. Pflichtverletzungsbewusstsein der Geschäftsleiter
a) Rechtsprechung
b) Unzulässigkeit der Gleichsetzung
3. Illustration anhand insolvenzbezogener Pflichten
a) Insolvenzantragspflicht gem. § 15a InsO
b) Zahlungsverbote gem. § 15b InsO
4. Wissensübertragungskonstruktion
5. Zwischenstand
VI. Fazit: Beschränkter Nutzen der Kardinalpflichtenthese


I. Einleitung

Unsere Sprache ist reich an Kardinalem: Wir kennen etwa Kardinalfehler, die man insbesondere dann begehen kann, wenn man die Kardinaltugenden nicht achtet. Und auch kardinale Missverständnisse sind uns durchaus geläufig. Womöglich handelt es sich bei der Figur der Kardinalpflichten im versicherungsrechtlichen Kontext um just ein kardinales Missverständnis: So meint etwa das LG München I, dass für den Risikoausschluss der „wissentlichen Pflichtverletzung“ in der D&O-Versicherung zwar im Schadensfall der Versicherer darlegungs- und beweisbelastet sei, jedoch „bei Verletzung ... sog. ‚Kardinalpflichten‘ ... die Darlegungs- und Beweislast auf das Organ“ falle. Andere Stimmen lassen dagegen verlauten, der BGH selbst habe im „Hinblick auf den Ausschlussgrund der wissentlichen Pflichtverletzung in einem D&O-Versicherungsvertrag“ entschieden, dass man „unmittelbar von einer objektiven Pflichtverletzung auf das ... Pflichtverletzungsbewusstsein ... schließen kann, dieses mithin zunächst automatisch vermutet wird“. Ein solcher Automatismus lässt sich auf die Gleichung bringen: „Kardinalpflicht + Verletzung = Wissentlichkeit“ – oder wie es im Schrifttum formuliert worden ist: „Bei einem Verstoß gegen so genannte berufliche Kardinaltugenden ... ist immer von einem wissentlichen Verstoß auszugehen“. Zustimmung verdient die zuletzt genannte Aussage zumindest insoweit, als schon Marcus Tullius Cicero die vier Kardinaltugenden – Gerechtigkeit (iustitia), Mäßigung (temperantia), Tapferkeit (fortitudo) und Weisheit (sapientia) – als Pflichten (officiis) formuliert hat. Als Leitstern für die folgende kritische Würdigung der Kardinalpflichtenthese eignen sich diese Tugenden allemal.

Doch was sind Kardinalpflichten? Eine erste begriffliche wie inhaltliche Handreichung zur Identifikation alles Kardinalen bietet uns Thomas von Aquin: „Eine Tugend heißt Kardinaltugend, weil an ihr die anderen Tugenden befestigt sind wie die Tür in der Angel“. Das ist ein etymologisch stimmiges Bild, weil cardo die Türangel bezeichnet. Konsequenterweise ist dieser Ansatz – in direkter Linie zu Thomas von Aquin – auch VERSR 2024, 538durch Schrifttum und Rechtsprechung rezipiert und für die D&O-Versicherung fortgeführt worden: So sei „zur Bejahung einer Kardinalpflichtverletzung stets zu untersuchen, [ob die] verletzte Rechtsnorm zu den zentralen Grundregeln einer bestimmten Regelungsmaterie, etwa des AktG, des GmbHG, der InsO oder einer beliebigen anderen Kodifikation gehört“. Das unterstellt, dass es in jedem Rechtsgebiet einen festen Kanon besonders grundlegender Normen gibt, die Kardinalpflichten statuieren und deren Verletzung stets wissentlich erfolgt. Dabei soll wohl gelten: Je grundlegender die Regel, desto kardinaler die Pflicht. Einige Instanzgerichte haben diese Argumentation bereits aufgegriffen und weitere deuten zumindest obiter dictu an, dieser Linie folgen zu wollen. Noch weiter gehen einige Stimmen in der Literatur, die so viele Geschäftsleiterpflichten zu Kardinalpflichten erheben, dass der Rückschluss von der objektiven Pflichtverletzung auf die wissentliche Begehung nahezu das gesamte Geschäftsleiterhandeln erfasst – fahrlässiges oder eventualvorsätzliches Handeln wäre faktisch ausgeschlossen. Eine solche Annahme widerspricht nicht nur der allgemeinen Lebenserfahrung; sie ist auch sach- und interessenwidrig: Würde man unterstellen, dass jeder Verstoß gegen eine „kardinale“ Sorgfalts- oder Legalitätspflicht den Tatbestand des Risikoausschlusses für wissentliche Pflichtverletzungen erfüllt, so wäre das Side-A-Deckungsversprechen der D&O-Versicherung weitgehend inhaltsleer.

Vor diesem Hintergrund führt die Suche nach dem Schlüssel zu den kardinalen Pflichten von Marcus Tullius Cicero über Thomas von Aquin – etwas unerwartet – zu einem jüngeren Denker, der zumindest die richtigen, Erkenntnisfortschritt versprechenden Ausgangsfragen stellt: „Kardinalpflicht – Wer bin ich – und wenn ja, wie viele?“ Um zu ermitteln, was und wie vielgestaltig die Kardinalpflichtenthese ist, hilft ein Blick auf den Hintergrund und die Motivation (II). Spürt man sodann den Entwicklungslinien und dem Aussagegehalt der Kardinalpflichtenthese in der Berufshaftpflichtversicherung nach (III), so erschließt sich hieraus nicht nur die zivilprozessuale und beweisrechtliche Bedeutung von Kardinalpflichtverletzungen (IV), sondern auch die grundsätzliche Übertragbarkeit dieser These auf und zugleich ihr begrenzter Nutzen für die D&O-Versicherung (V).

II. Hintergrund und Motivation der Kardinalpflichtenthese

Angesichts der spezifischen Tatbestandsvoraussetzungen des in (Berufs-)Haftpflichtversicherungsverträgen verbreiteten Ausschlusses der „wissentlichen Pflichtverletzung“ (1) ergeben sich in der Praxis erhebliche Darlegungs- und Beweisschwierigkeiten, denen mangels Voraussetzungsidentität auch nicht durch die Bindungswirkung des Haftpflichturteils begegnet werden kann (2). An dieser Stelle setzt die Rechtsprechungslinie zu den Kardinalpflichten an.

1. Wissentliche Pflichtverletzung

Vorsatz ist in der Haftpflichtversicherung gem. § 103 VVG nicht versichert. In der Berufshaftpflicht- und auch in der D&O-Versicherung wird dem subjektiven Risikoausschluss des § 103 VVG durch AVB zusätzlich ein Ausschluss für „wissentliche Pflichtverletzungen“ zur Seite gestellt. Wissentlichkeit setzt (...)
 



Verlag Dr. Otto Schmidt vom 15.05.2024 15:23
Quelle: Verlag Dr. Otto Schmidt

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