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Kirchenrechtlicher Schadensersatzanspruch und zivilrechtlicher Regress (Janssen, VersR 2024, 457)

Vernachlässigte Fragen im Zusammenhang mit der Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen gegen die katholische Kirche wegen Missbrauchstaten.

I. Einführung

Fragen der Schadensersatzhaftung katholischer Bistümer wegen Missbrauchstaten ihrer Kleriker (Diakone, Priester und Bischöfe) beschäftigen zunehmend das juristische Schrifttum. Dabei stehen im Mittelpunkt der Betrachtung immer wieder dieselben Sujets: Anspruchsgrundlage, Schmerzensgeldbemessung, Verjährung und Beweislastverteilung. Andere Aspekte werden entweder ausgeblendet (so z.B. eventuelle kirchenrechtliche Schadensersatzansprüche) oder allzu voreilig als geklärt angesehen (wie z.B. Regressansprüche der Schadensersatz leistenden Bistümer gegen ihre schadensverursachenden übergriffigen Kleriker). Diese bislang vernachlässigten Gesichtspunkte der Schadensersatzhaftung von Bistümern in Missbrauchsfällen sollen nachfolgend beleuchtet werden (II, III, V). Gleiches gilt für die bereits oftmals erörterte, wenngleich unzutreffend beantwortete Frage nach der Anspruchsgrundlage (IV).

II. Kirchenrechtliche Anspruchsgrundlage für staatlich durchsetzbare Schadensersatzansprüche von Missbrauchsbetroffenen?

Anlass für diese – auf den ersten Blick vielleicht überraschende – Fragestellung bieten zwei nahezu ein halbes Jahrhundert auseinanderliegende Entscheidungen des BGH.

1. BGH v. 17.12.1956: Kirchenrechtlicher Amtshaftungsanspruch?

Mitte der 1950er-Jahre steht der BGH noch auf dem Boden der damals vorherrschenden, heute aber längst überwundenen sog. Koordinationslehre. Ohne große Rücksicht auf den Verfassungstext und auf allgemeingültige Methoden der Verfassungsinterpretation propagieren Rechtsprechung und Literatur in der jungen Bundesrepublik eine Gleichrangigkeit von Staat und Kirche(n) als zweier je souveräner Partner mit je eigenen Zuständigkeiten und originären Herrschaftsrechten. Damit vernachlässigt die Koordinationslehre den zwingenden Suprematieanspruch des freiheitlichen Verfassungsstaats, der die Existenz gleichsam exterritorialer Gebilde nicht akzeptieren kann. Dieser Vorwurf trifft auch den BGH, geht dieser doch davon aus, eine Schadensersatzhaftung der Kirchen „nach den einschlägigen staatlichen Gesetzen“ (nämlich § 839 BGB i.V.m. Art. 34 GG) komme nur „mangels entsprechender eigener kirchenrechtlicher [Haftungs‑]Vorschriften“ in Betracht. Demgemäß wirft der BGH die – bisweilen sogar noch heute bejahte – Frage auf, „ob und inwieweit die Kirchen im Rahmen ihrer Autonomie das Gebiet der Amtshaftung in ihrem Bereich auch durch eigene Kirchengesetze [...] regeln und gegebenenfalls zur Entscheidung über die Amtshaftungsansprüche [...] eigene Gerichte für zuständig erklären könnten“ – wohl mit Ausschlusswirkung zulasten der staatlichen Gerichtsbarkeit.

2. BGH v. 28.3.2003: Vorrang des innerkirchlichen Rechtsschutzes und Subsidiarität der staatlichen Justizgewährung

Zwar nicht zum Schadensersatzrecht, sondern zum Gehaltsanspruch eines Geistlichen, dafür aber allgemeingültig konstatiert der BGH, „innerkirchliche Streitigkeiten“ seien „im Einklang mit dem kirchlichen Selbstverständnis durch die Anrufung eigener [d.h. kirchlicher] Gerichte oder Schlichtungsgremien beizulegen“. Denn: (...)
 



Verlag Dr. Otto Schmidt vom 16.04.2024 13:33
Quelle: Verlag Dr. Otto Schmidt

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