Aktuell in der MDR

Arzthaftungsrecht: Aktuelle Rechtsprechung zur Aufklärung des Patienten (Martis/Winkhart-Martis, MDR 2024, 412)

Die Autoren des voraussichtlich Ende 2024 in 7. Aufl. erscheinenden Standardwerkes „Martis/Winkhart, Arzthaftungsrecht, 6. Aufl. 2021“ stellen im Anschluss an die Vorjahresberichte (Aktuelle Rechtsprechung zur Aufklärung des Patienten, MDR 2022, 1260 ff. und zu Diagnoseirrtum, Unterlassener Befunderhebung und Dokumentationsversäumnisse, MDR 2022, 1388) die aktuelle obergerichtliche Rechtsprechung zur „Aufklärung des Patienten“ und in einem in Kürze erscheinenden Folgebeitrag die aktuelle obergerichtliche Rechtsprechung zum Diagnoseirrtum, zur unterlassenen Befunderhebung, den Dokumentationsversäumnissen und den „Voll beherrschbaren Risiken“ dar.


I. Unterlassene Befunderhebung und therapeutische Aufklärung

II. Aufklärung „im Großen und Ganzen“; erhöhte Risiken

1. Keine Prozentzahlen anzugeben

2. Nervschädigungen

3. Misserfolgsrisiko

4. Erhöhte Risiken

III. Behandlungsalternativen

1. Ernsthafte Behandlungsalternative bejaht

2. Ernsthafte Behandlungsalternative verneint

IV. Rechtzeitigkeit der Aufklärung

1. Keine „Sperrfrist“; konkludente Einwilligung

2. Aufklärung am Vortag der Operation

3. Aufklärung am Tag des Eingriffs

4. Entaktualisierung

V. Hypothetische Einwilligung und ernsthafter Entscheidungskonflikt

1. Entscheidungskonflikt plausibel

2. Entscheidungskonflikt nicht plausibel

VI. Nachweis der Aufklärung („immer-so“)

1. Unterzeichneter Aufklärungsbogen und „Ständige Übung“

2. Qualifikation des aufklärenden Arztes

3. EDV-Dokumentation

VII. Kausalität und Zurechnungszusammenhang

1. Beweismaß des § 287 ZPO; Beweislast des Patienten

2. Rechtmäßiges Alternativverhalten; Beweislast des Arztes

3. Zurechnungszusammenhang

VIII. Aufklärungsverschulden


I. Unterlassene Befunderhebung und therapeutische Aufklärung

Unterbleibt der gebotene Rat zu einer zweifelsfrei bzw. medizinisch gebotenen diagnostischen Maßnahme, ist das hierin liegende Unterlassen als Befunderhebungsfehler zu behandeln. Unterlässt es der Arzt, den Patienten über die Dringlichkeit der – ihm ansonsten zutreffend empfohlenen – medizinisch gebotenen Maßnahme zu informieren und ihn vor Gefahren zu warnen, die im Falle des Unterbleibens entstehen können, liegt ein – regelmäßig nicht als grober Behandlungsfehler zu qualifizierender – Verstoß gegen die Pflicht zur therapeutischen Aufklärung (Sicherungsaufklärung) des Patienten vor. In diesen Fällen liegt der Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit des ärztlichen Fehlverhaltens regelmäßig nicht in einer unterlassenen Befunderhebung als solcher, sondern in dem Unterlassen von Warnhinweisen zum Zwecke der Sicherstellung des Behandlungserfolges.

Stellt sich die Patientin mit Nierenbeschwerden bei einem Nephrologen vor, der eine Untersuchung mit Duplexsonographie (ohne Befund) veranlasst und dabei einen leicht erhöhten Cortisolspiegel feststellt, liegt kein Befunderhebungsfehler, sondern eine unzureichende therapeutische Aufklärung hinsichtlich der Dringlichkeit der Maßnahmen vor, wenn der Arzt der Patientin zunächst das Absetzen der laufend eingenommenen Anti-Baby-Pille (Zoely) empfiehlt, um bei der weiteren Behandlung unverfälschte Laborwerte zu erhalten, die objektiv erforderliche, weitere Diagnostik (24-Stunden-Sammelurintest, Durchführung eines Oberbauch-CT) ausweislich der Dokumentation plant, zunächst zurückstellt und mit der Patientin einen Wiedervorstellungstermin nach einem Monat vereinbart, anstatt die Testung und das CT zur Abklärung eines differentialdiagnostisch in Betracht kommenden „Morbus Cushing“ (hier: mit bestehendem hormonaktiven Adenom) unverzüglich zu veranlassen.

Beim Morbus Cushing handelt es sich um eine Nierenerkrankung, resultierend etwa aus einem Adenom oder Karzinom in der Nebenniere. Als erforderliche Diagnostik werden die Medikamentanamnese, körperliche Untersuchung mit Hautinspektionen, Blutdruckkontrolle, Labordiagnostik (Hypokaliämie, Hypercholesterinämie, gestörte Glukosetoleranz), eine Ausschlussdiagnostik mit Cortisol-Ausscheidung im 24-Stunden-Urin (hier beim vorliegenden Cushing-Syndrom deutlich erhöht), ein Dexamethason-Kurztest bzw. Langtest und zum Nachweis eines Adenoms eine Bildgebung (CT/MRT) genannt (vgl. www.flexikon.doccheck.com „Morbus Cushing“ und www.wikipedia.de).

Der Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit liegt dagegen in Fällen, in denen es schon an dem (deutlichen) Hinweis fehlt, dass ein kontrollbedürftiger Befund vorliegt und Maßnahmen zur weiteren Abklärung medizinisch geboten sind (hier: pathologischer Befund einer Stuhlprobe wird nicht an den Patienten weitergeleitet, Pankreaskarzinom wird erst 7 Monate später diagnostiziert), regelmäßig nicht nur im Unterlassen von Warnhinweisen (unterlassene therapeutische Aufklärung), sondern in der unterbliebenen bzw. verzögerten Befunderhebung.

Der Hinweis auf eine vereinbarte Wiedervorstellung (hier: zur Durchführung bzw. Planung eines CT) ist aus medizinischen Gründen nicht dokumentationspflichtig. Eine Dokumentationspflicht besteht aber dann, wenn sich die Patientin – für den Arzt erkennbar – weigert, seinem Rat (hier: zur Wiedervorstellung bzw. zur Absetzung der Anti-Baby-Pille) zu folgen, oder wenn Symptome vorliegen, die auf eine mögliche Lebensgefahr oder schwere gesundheitliche Beeinträchtigungen schließen lassen.

Erteilt ein Arzt im Rahmen der „therapeutischen Aufklärung“ dem Patienten den gebotenen Hinweis, sich noch am selben Tag zu einem Facharzt bzw. in ein Krankenhaus zu begeben, muss er dies aus medizinischen Gründen nicht dokumentieren. Es reicht beim gesetzlich versicherten Patienten aus, einen Überweisungsschein auszustellen. Maßnahmen sind nur dann zu dokumentieren, wenn dies aus medizinischen Gründen erforderlich ist, um Ärzte und Pflegepersonal über den Verlauf der Krankheit und die bisherige Behandlung im Hinblick auf medizinische Entscheidungen ausreichend zu informieren.

Weigert sich der Patient jedoch, dem Rat des Arztes zu folgen, ist (...)
 



Verlag Dr. Otto Schmidt vom 03.04.2024 15:59
Quelle: Verlag Dr. Otto Schmidt

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