BGH v. 12.4.2022 - X ZR 101/20

Fluggastrechte: Entschädigung wegen Verspätung bei zwei Teilflügen

Bei einem auf einer einheitlichen Buchung beruhenden Flug, der aus zwei Teilflügen besteht, ist ein Unternehmen, das die Buchung erteilt und die Durchführung des zweiten Teilflugs übernommen hat, als ausführendes Unternehmen bzgl. des gesamten Flugs anzusehen. Dies gilt auch dann, wenn die Fluggäste den zweiten Teilflug wegen Verspätung des ersten Teilflugs nicht erreicht. In diesem Zusammenhang ist unerheblich, ob die einzelnen Teilflüge für sich gesehen in den Anwendungsbereich der Fluggastrechteverordnung fallen.

Der Sachverhalt:
Der Kläger nimmt die Beklagte aus eigenem und abgetretenem Recht auf Leistung einer Ausgleichszahlung nach der Fluggastrechteverordnung und auf Erstattung angefallener Zusatzkosten in Anspruch.

Der Kläger buchte bei der Beklagten für sich und die Zedentin für den 3.6.2018 Flüge von Ibiza über Madrid nach Frankfurt a.M. Der erste Teilflug wurde von I. durchgeführt, der zweite von der Beklagten. Aufgrund einer Verspätung des ersten Flugs verpassten der Kläger und die Zedentin den Anschlussflug in Madrid. Sie erreichten Frankfurt a.M. am Folgetag mit einer Verspätung von zehn Stunden. Der Kläger begehrt Zahlung einer Ausgleichsleistung i.H.v. 250 € pro Person, Ersatz von Mehrkosten für den Transport einer Golfausrüstung i.H.v. 160 € und von Taxikosten i.H.v. 20 € sowie Erstattung vorgerichtlicher Anwaltskosten.

Das AG wies die Klage ab; das LG gab ihr statt. Die Revision der Beklagten hatte vor dem BGH keinen Erfolg.

Die Gründe:
Das LG ist zu Recht zu dem Ergebnis gelangt, dass die Voraussetzungen für einen Ausgleichsanspruch wegen großer Ankunftsverspätung erfüllt sind, weil der Kläger und die Zedentin mehr als drei Stunden später als vorgesehen in Frankfurt a.M. angekommen sind.

Die beiden Teilflüge sind als Einheit zu betrachten, weil dem Kläger eine einheitliche, bestätigte Buchung erteilt worden ist. Deshalb ist Frankfurt a.M. das Endziel der Flugreise, die in Ibiza begonnen hat. Nach der ständigen Rechtsprechung des EuGH ist für die Entstehung eines Ausgleichsanspruchs maßgeblich, ob ein Zeitverlust von drei Stunden oder mehr am Endziel eingetreten ist. Endziel ist gem. der auch in diesem Zusammenhang maßgeblichen Definition in Art. 2 Buchst. h FluggastrechteVO der Zielort auf dem am Abfertigungsschalter vorgelegten Flugschein, bei direkten Anschlussflügen der Zielort des letzten Flugs. Als Anschlussflüge in diesem Sinne sind nach der Rechtsprechung des EuGH zwei oder mehr Flüge zu verstehen, die für die Zwecke des in der Fluggastrechteverordnung vorgesehenen Ausgleichsanspruchs eine Gesamtheit darstellen. Eine solche Gesamtheit liegt vor, wenn zwei oder mehrere Flüge Gegenstand einer einzigen Buchung waren.

Die Beklagte ist auch hinsichtlich des ersten Teilflugs ausführendes Luftfahrtunternehmen i.S.v. Art. 5 Abs. 1 Buchst. c und Art. 2 Buchst. b FluggastrechteVO. Nach der gefestigten Rechtsprechung des EuGH setzt die Einstufung als ausführendes Luftfahrtunternehmen i.S.v. Art. 2 Buchst. b FluggastrechteVO die Durchführung des betreffenden Flugs und das Bestehen eines mit einem Fluggast geschlossenen Vertrags voraus. Bei einem auf einer einheitlichen Buchung beruhenden Flug, der aus zwei Teilflügen besteht, ist ein Unternehmen, das die Buchung erteilt und den ersten Teilflug durchgeführt hat, auch dann als ausführendes Unternehmen hinsichtlich des gesamten Flugs anzusehen, wenn der zweite Teilflug von einem anderen Unternehmen durchgeführt worden ist. Dies gilt auch dann, wenn der erste Teilflug planmäßig stattgefunden hat und die Verspätung erst während des zweiten Teilflugs eingetreten ist. Umgekehrt ist ein Unternehmen, das die einheitliche Buchung erteilt hat und mit der Durchführung des zweiten Flugs betraut war, auch dann als ausführendes Unternehmen bzgl. des gesamten Flugs anzusehen, wenn die Fluggäste den zweiten Teilflug wegen Verspätung des ersten Teilflugs nicht erreicht haben.

Bei Anlegung dieses Maßstabs ist die Beklagte im Streitfall jedenfalls deshalb ausführendes Luftfahrtunternehmen bzgl. des gesamten Flugs, weil sie die einheitliche Buchung erteilt und die Durchführung eines Teilflugs übernommen hat. Entgegen der Auffassung der Revision hat im Streitfall nicht deshalb etwas anderes zu gelten, weil in den Ausgangsfällen, die den Entscheidungen des EuGH zugrunde lagen, die Verspätung auf einem Teilflug eingetreten war, der für sich betrachtet nicht in den Anwendungsbereich der Fluggastrechteverordnung fällt. Wie der EuGH entschieden hat, ist die Frage, ob die Fluggastrechteverordnung anwendbar ist, auch bei einem aus mehreren Teilflügen bestehenden, durch eine einheitliche Buchung zu einer Einheit verbundenen Flug allein anhand des Abflug- und Zielort des betreffenden Fluggasts zu beurteilen, nicht aber anhand von Orten, an denen eine Zwischenlandung erfolgt. Solche Flüge dürfen nicht je nach Zusammenhang einmal als Gesamtheit und einmal als mehrere getrennte Flüge betrachtet werden; sie sind stets als Einheit zu behandeln. Daraus ergibt sich, dass auch die Einordnung als ausführendes Luftfahrtunternehmen nicht davon abhängt, an welchen Orten eine Zwischenlandung erfolgt ist. Sie ist allein anhand der beiden oben genannten Kriterien vorzunehmen.

Mehr zum Thema:

Rechtsprechung:

Entschädigung bei verpasstem Flug wegen überlanger Wartezeit vor der Sicherheitskontrolle
OLG Frankfurt vom 27.01.2022 - 1 U 220/20
MDR 2022, 701

Aufsatz:
Die Entwicklung des Reiserechts der Luftbeförderung einschließlich der EU-Fluggastrechte-VO im Jahre 2020
Ernst Führich, MDR 2021, 909

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Verlag Dr. Otto Schmidt vom 03.08.2022 16:14
Quelle: BGH online

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