EuGH v. 2.6.2022 - C-589/20

Sturz auf mobiler Ausstiegstreppe: Zur Frage der Haftungsbefreiung für Luftfahrtunternehmen

Der EuGH hat sich vorliegend mit der Frage befasst, ob eine Fluglinie haftet, wenn ein Fluggast ohne feststellbaren Grund beim Aussteigen auf einer mobilen Treppe stürzt und sich verletzt.

Der Sachverhalt:
Die Klägerin war Reisende auf einem Austrian Airlines-Flug von Thessaloniki nach Wien. Sie verlangt vor dem zuständigen Gericht in Österreich von der beklagten Austrian Airlines Schadensersatz wegen Verletzungen, die sie erlitt, als sie ohne feststellbaren Grund beim Aussteigen auf der mobilen Treppe stürzte. Das Gericht möchte in diesem Zusammenhang vom EuGH wissen, ob ein solcher Sturz einen "Unfall" i.S.v. Art. 17 Abs. 1 des Übereinkommens zur Vereinheitlichung bestimmter Vorschriften über die Beförderung im internationalen Luftverkehr - Übereinkommen von Montreal - darstellt. Nach dieser Bestimmung hat das Luftfahrtunternehmen den Schaden zu ersetzen, der dadurch entsteht, dass ein Reisender getötet oder körperlich verletzt wird, jedoch nur, wenn sich der Unfall, durch den der Tod oder die Körperverletzung verursacht wurde, an Bord des Luftfahrzeugs oder beim Ein- oder Aussteigen ereignet hat.

Außerdem ersucht das österreichische Gericht den EuGH hinsichtlich einer möglichen Haftungsbefreiung des Luftfahrtunternehmens um Auslegung von Art. 20 Satz 1 des Übereinkommens von Montreal. Danach ist das Luftfahrtunternehmen, wenn es nachweist, dass die Person, die den Schadenersatzanspruch erhebt, oder ihr Rechtsvorgänger den Schaden durch eine unrechtmäßige Handlung oder Unterlassung, sei es auch nur fahrlässig, verursacht oder dazu beigetragen hat, ganz oder teilweise von seiner Haftung gegenüber dieser Person insoweit befreit, als diese Handlung oder Unterlassung den Schaden verursacht oder dazu beigetragen hat.

Die Gründe:
Art. 17 Abs. 1 des Übereinkommens von Montreal ist dahin auszulegen, dass eine Situation, in der ein Fluggast aus unbestimmtem Grund auf einer für den Ausstieg der Fluggäste eines Flugzeugs bereitgestellten mobilen Treppe stürzt und verletzt wird, unter den Begriff "Unfall“ im Sinne dieser Bestimmung fällt. Dies gilt auch dann, wenn das betreffende Luftfahrtunternehmen hierbei nicht gegen seine Sorgfalts- und Verkehrssicherungspflichten verstoßen hat. Für die Auslösung der in Art. 17 Abs. 1 vorgesehenen Gefährdungshaftung von Luftfahrtunternehmen genügt es, dass sich der Unfall beim Aussteigen ereignet hat. Diese Haftung kann nicht von einem Fehlverhalten oder einer Fahrlässigkeit des Luftfahrtunternehmens abhängen.

Art. 20 Satz 1 des Übereinkommens ist dahin auszulegen, dass ein Luftfahrtunternehmen bei einem Unfall, der einem Fluggast einen Schaden verursacht hat und bei dem Letzterer aus unbestimmtem Grund auf einer für den Ausstieg der Fluggäste bereitgestellten Treppe gestürzt ist, nur unter gewissen Voraussetzungen von seiner Haftung gegenüber diesem Fluggast befreit werden kann. Voraussetzung dafür ist, dass dieses Luftfahrtunternehmen in Anbetracht sämtlicher Umstände, unter denen dieser Schaden eingetreten ist, gemäß den anwendbaren nationalen Rechtsvorschriften und vorbehaltlich der Wahrung der Grundsätze der Äquivalenz und der Effektivität nachweist, dass im Sinne dieser Bestimmung eine unrechtmäßige Handlung oder Unterlassung dieses Fluggasts, sei es auch nur fahrlässig, den diesem entstandenen Schaden verursacht oder dazu beigetragen hat. Art. 20 dient insoweit dem gerechten Interessenausgleich.

Der Umstand, dass sich der betreffende Fluggast nicht an einem der Handläufe der für den Ausstieg der Fluggäste bereitgestellten mobilen Treppe festgehalten hat, kann freilich die Körperverletzungen dieses Fluggasts verursachen oder dazu beitragen. Im Rahmen dieser Beurteilung darf das nationale Gericht jedoch nicht außer Acht lassen, dass ein Fluggast, der - wie hier - mit einem minderjährigen Kind reist, auch für dessen Sicherheit sorgen muss. Dies kann den Fluggast durchaus dazu veranlassen, sich nicht an einem solchen Handlauf festzuhalten oder diesen loszulassen, um die erforderlichen Maßnahmen zu treffen, damit eine Beeinträchtigung der Sicherheit des Kindes verhindert wird.

Dass die Klägerin vorliegend mitangesehen hat, wie unmittelbar vor ihr ihr Ehegatte auf der fraglichen mobilen Treppe beinahe zu Fall gekommen wäre, kann nur bedingt als Nachweis einer, sei es auch nur fahrlässigen, unrechtmäßigen Handlung oder Unterlassung der Klägerin i.S.v. Art. 20 Satz 1 dienen. Es darf insoweit nicht außer Acht gelassen werden, dass die Klägerin behauptet, aufgrund des beobachteten beinahe erfolgten Sturzes besonders vorsichtig die Treppe herabgestiegen zu sein. Im Übrigen kann nicht ausgeschlossen werden, dass der Umstand, dass die Klägerin darauf verzichtet hat, sich unmittelbar nach dem Unfall einer Behandlung zu unterziehen, zur Verschlimmerung der von ihm erlittenen Körperverletzungen geführt hat. Allerdings ist auch zu berücksichtigen, welchen Schweregrad diese Verletzungen unmittelbar nach diesem Unfall zu haben schienen und welche Informationen der Fluggast vom medizinischen Personal vor Ort in Bezug auf das Aufschieben der medizinischen Behandlung oder auf die Möglichkeit, eine solche Behandlung in der Nähe in Anspruch zu nehmen, erhalten hat.

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Verlag Dr. Otto Schmidt vom 07.06.2022 13:59
Quelle: EuGH online

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