Aktuell in der MDR

Das Pflichtteilsrecht im Spannungsfeld zwischen Erblasser, Erbe und Pflichtteilsberechtigtem (Lange, MDR 2024, 401)

Das in den §§ 2303 bis 2338 BGB geregelte Pflichtteilsrecht bildet ein Kernelement des deutschen Erbrechts. Das Pflichtteilsrecht der Abkömmlinge genießt den Grundrechtsschutz des Art. 14 Abs. 1 S. 1 GG (BVerfG BVerfGE 112, 332; bestätigt in BVerfG ZEV 2019, 79, 80) und zählt nach Ansicht des BGH (BGHZ 234, 166) zum deutschen ordre public gem. Art. 35 EuErbVO. In seinem Wesen ist es seit dem Inkrafttreten des BGB im Jahr 1900 unverändert geblieben. Als die grundsätzlich unentziehbare und bedarfsunabhängige wirtschaftliche Mindestbeteiligung naher Angehöriger und des längerlebenden Ehegatten (§§ 2303, 2309 BGB) prägt es die gewillkürte Erbfolge bis heute; jede Gestaltung einer Nachfolge von Todes wegen muss es berücksichtigen. Der Beitrag stellt Bedeutung, Funktionsweise und Problemstellungen rund um das Pflichtteilsrecht aus der Perspektive der drei Akteure – Erblasser, Erbe, Pflichtteilsberechtigter – dar, zumal sich aus den jeweiligen Blickwinkeln unterschiedliche Beratungsansätze ergeben.


I. Einleitung

II. Die Perspektive des Erblassers

1. Enterbung

2. Pflichtteil trotz Erbeinsetzung

3. Pflichtteilsverzicht

4. Gestaltungen jenseits des Pflichtteilsverzichts

III. Die Perspektive des Pflichtteilsberechtigten

1. Ausgangssituation

2. Auskunfts- und Wertermittlungsanspruch

a) Überblick

b) Stärken und Schwächen der einzelnen Ansprüche

aa) Kosten und Risiken

bb) Wertermittlung

cc) Notarielles Nachlassverzeichnis

IV. Die Perspektive des Erben

1. Erbe als Schuldner des Pflichtteilsanspruchs

2. Schicksal von Schenkungen

3. Liquiditätsproblematik

V. Fazit


I. Einleitung

Der Pflichtteilsanspruch ist ein Anspruch, der auf die Zahlung einer bestimmten Geldsumme gerichtet ist (§ 2303 Abs. 1 S. 2 BGB) und der mit dem Erbfall entsteht (§ 2317 Abs. 1 BGB). Voraussetzung in sachlicher Hinsicht ist lediglich, dass der Anspruchsinhaber enterbt worden ist (§ 2303 Abs. 1 S. 1 Halbs. 1 mit der Auslegungsregel in § 2304 BGB). In persönlicher Hinsicht muss er Abkömmling, Elternteil oder Ehegatte des Erblassers sein, §§ 2303, 2309 BGB. Beim Ehegatten kommt noch hinzu, dass er beim Erbfall mit dem Erblasser in einer rechtsgültigen Ehe gelebt haben muss. Schuldner des Anspruchs ist der Erbe.

Das deutsche Pflichtteilsrecht ist nicht als dinglich wirkendes Zwangs- oder Noterbrecht ausgestaltet. Der Pflichtteilsberechtigte hat nur einen schuldrechtlichen Anspruch, der auf die Zahlung einer Geldsumme gerichtet ist; er zählt damit zu den Nachlassgläubigern (vgl. § 1967 BGB). Die Höhe seines Anspruchs orientiert sich an der gesetzlichen Erbfolge, denn er besteht in der Hälfte des Wertes des gesetzlichen Erbteils (§ 2303 Abs. 1 S. 2 BGB). Flankiert wird der Pflichtteilsanspruch durch den Pflichtteilsergänzungsanspruch der §§ 2325 bis 2331 BGB, der verhindern soll, dass der Erblasser durch Rechtsgeschäfte unter Lebenden den Pflichtteilsanspruch wirtschaftlich aushöhlt. Es handelt sich um einen selbstständigen Anspruch, der sich vor allem gegen den Erben und nur hilfsweise gegen den Beschenkten (§ 2229 BGB) richtet. 

II. Die Perspektive des Erblassers

1. Enterbung


Ein Erblasser, der sich Gedanken über seine Nachfolgegestaltung macht, kann es bei der gesetzlichen Erbfolge nach den §§ 1924 ff. BGB belassen und nichts anordnen. Als Folge kann kein Pflichtteilsanspruch entstehen, da keine berechtigte Person enterbt wird. Möchte jedoch ein Erblasser, der mindestens ein Kind hat oder verheiratet ist oder bei dem noch mindestens einer seiner Elternteile lebt, eine von der gesetzlichen Erbfolge abweichende Regelung treffen, muss er sich mit dem Pflichtteilsrecht befassen.

Das Entstehen des Pflichtteilsanspruchs setzt voraus, dass die berechtigte Person enterbt worden ist. Die zentrale Entscheidung des Erblassers ist somit diejenige, dass er seinen Ehegatten oder einen nahen Angehörigen nicht zum Erben einsetzen will. Wenn man sich zu diesem Schritt durchringt, sollte die Enterbung hinreichend eindeutig formuliert werden, obwohl eine Enterbung sogar konkludent erfolgen kann.4 Dies dient zum einen der eigenen Orientierung des Erblassers. So ist etwa Laien mitunter nicht klar, dass mit der Einsetzung der Kinder als Schlusserben nach dem längerlebenden Ehegatten im Rahmen eines gemeinschaftlichen Testaments (§ 2269 BGB) deren Enterbung beim ersten Erbfall einhergeht. Bei Vermögensübertragungen unter Lebenden kann es zum anderen vereinzelt vorkommen, dass die gewählten Formulierungen zweideutig sind, mit der Folge, dass ein Gericht später eine Enterbung annimmt. So hat beispielsweise das OLG Brandenburg im Jahr 2022 aus den Worten „vorweggenommene Erbfolge“ und „Anrechnung auf den Pflichtteil“ in einem notariellen Überlassungsvertrag unter Lebenden durch Auslegung ermittelt, dass der Veräußerer angeblich den Erwerber enterben und ihm nur den Pflichtteil belassen wollte.

Die Enterbung bedarf (...)
 



Verlag Dr. Otto Schmidt vom 27.03.2024 14:40
Quelle: Verlag Dr. Otto Schmidt

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