LG Ellwangen v. 20.3.2024 - 1 S 70/23

Zur Alleinhaftung eines Kolonnenspringers wegen grob fahrlässigen Verstoßes gegen § 5 Abs. 3 Nr. 1 StVO

Es besteht keine Verpflichtung stets am äußersten rechten Rand zu fahren, um riskante Überholmanöver durch sog. Kolonnenspringer zu ermöglichen. Eine solche Verpflichtung folgt auch nicht aus der aus einem Ereignisdatenspeicher eines Elektrofahrzeugs ablesbaren Tatsache, dass sich eine Kolonne mit vergleichsweise langsamen knapp 63 km/h – bei zulässiger Höchstgeschwindigkeit von 100 km/h bewegt.

Der Sachverhalt:
Der Kläger ist Eigentümer eines Elektrofahrzeugs vom Typ Tesla Model S, das über einen sog. Ereignisdatenspeicher verfügt und mit Spiegel 2,189 Meter breit ist. Der Beklagte zu 2) ist Halter eines Opel Astra, der bei der Beklagten zu 3) haftpflichtversichert ist und am Unfalltag vom Beklagten zu 1) gefahren wurde. An besagtem Tag, dem 31.07.2022, befuhren sowohl der Kläger als auch der Beklagte zu 1) am frühen Nachmittag eine knapp fünf Meter breite Kreisstraße ohne Mittellinie und ohne Bankett. Die zulässige Höchstgeschwindigkeit beträgt 100 km/h.

Der Beklagte zu 1) fuhr an der Spitze einer Fahrzeugkolonne von mindestens zehn Fahrzeugen. Der Kläger, der sich von hinten der Kolonne genähert hatte, überholte sukzessive die einzelnen Fahrzeuge in der Kolonne. Beim Versuch, die - aus seiner Sicht - letzten drei Fahrzeuge der Kolonne auf einmal zu überholen, kollidierte er streifend mit dem Beklagtenfahrzeug. Das Fahrzeug des Klägers wurde infolgedessen an der hinteren rechten Seite beschädigt, das Beklagtenfahrzeug im vorderen linken Bereich.

Der Kläger hat behauptet, dass der Beklagte zu 1) plötzlich und unerwartet nach links ausgeschert sei als er ihn überholt habe. Wer nach links ausschert und dabei mit einem links an dem Fahrzeug vorbeifahrenden Fahrzeug kollidiert würde seinen Pflichten beim Überholtwerden aus § 5 Abs. 4 StVO nicht Genüge tun und hätte den Unfall alleinig zu verantworten.

Das AG hat die Klage nach informatorischer Anhörung der beiden Fahrzeugführer sowie der Einholung eines unfallanalytischen Sachverständigengutachtens abgewiesen. Das LG hat die hiergegen gerichtet Berufung des Klägers zurückgewiesen.

Die Gründe:
Der Kläger hat gegen die Beklagten aus keinem Rechtsgrund, insbesondere nicht aus §§ 7, 18 StVG oder § 823 Abs. 1 BGB, Anspruch auf Zahlung von Schadensersatz. Zu Recht hatte das AG die einfache Betriebsgefahr des Beklagtenfahrzeugs hinter die aufgrund des als grob fahrlässig zu beurteilenden Verstoßes des Klägers gegen § 5 Abs. 3 Nr. 1 StVO erhöhte Betriebsgefahr des Klägerfahrzeugs zurücktreten lassen.

Für den Beklagten zu 1) bestand keine Verpflichtung stets am äußersten rechten Rand zu fahren. Er durfte insbesondere aufgrund des fehlenden Banketts und des im Unfallzeitpunkt an der Unfallörtlichkeit fehlenden Gegenverkehrs vernünftigerweise einen gewissen Sicherheitsabstand zum rechten Fahrbahnrand einhalten. Eine solche Verpflichtung folgte auch nicht aus der aus dem Ereignisdatenspeicher des Klägerfahrzeugs ablesbaren Tatsache, dass sich die Kolonne einschließlich des Beklagten zu 1) als Kolonnenführer mit vergleichsweise langsamen knapp 63 km/h bewegte. Diese Geschwindigkeit war offensichtlich den Straßenverhältnissen und dem Straßenverlauf geschuldet. Im Übrigen besteht keine Verpflichtung stets am äußersten rechten Rand zu fahren, um - wie hier - riskante Überholmanöver durch sog. Kolonnenspringer zu ermöglichen.

Zwar stellt das bloße Überholen einer Kolonne - hier in Form von drei vorausfahrenden PKW - als solches noch keinen Fall des Überholens bei unklarer Verkehrslage i.S.d. § 5 Abs. 3 Nr. 1 StVO dar. Der vorliegende Fall wies jedoch die Besonderheit auf, dass an der konkreten Unfallörtlichkeit bei objektiver Sichtweise nicht mit einem gefahrlosen Überholen zu rechnen war. Denn es handelte sich um eine lediglich knapp fünf Meter breite Kreisstraße ohne Bankett, die zu Beginn des klägerischen Überholvorgangs abschüssig nach rechts und gegen Ende des klägerischen Überholvorgangs in einer leichten Linkskurve bergauf in Richtung einer Kuppe verlief. Unter Berücksichtigung der Tatsache, dass das Klägerfahrzeug mit Spiegeln knapp 2,1 Meter breit ist, hätte auch dem Kläger zwingend einleuchten müssen, dass ein Überholen - hier in Form eines Vorbeischießens an gleich drei PKW mit knapp 95 km/h - trotz seiner extremen Beschleunigungsfähigkeit allenfalls möglich sein würde, wenn alle überholten Fahrzeuge am äußersten rechten Rand der Fahrbahn fahren würden. Hierauf durfte der Kläger aufgrund der Straßenverhältnisse und dem Straßenverlauf nicht vertrauen.

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Verlag Dr. Otto Schmidt vom 27.03.2024 13:52
Quelle: Landesrechtsprechung Baden-Württemberg

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