Aktuell in der MDR

Pauschalreiserecht: Die COVID-19-Pandemie und das Recht zum kostenlosen Rücktritt vor Reisebeginn (Tonner, MDR 2023, 1)

Die Auswirkungen der COVID-19-Pandemie im Reiserecht haben inzwischen die höchstrichterliche Rechtsprechung erreicht. Im August 2022 fällte der BGH nicht weniger als vier Entscheidungen zu diesem Thema. Mit Blick auf das Pauschalreiserecht werden im folgenden Beitrag die BGH-Urteile v. 30.8.2022 – X ZR 66/21, MDR 2022, 1400 und X ZR 84/21, MDR 2023, 23 näher analysiert und es wird der Frage nachgegangen, ob durch die Entscheidungen grundsätzliche oder lediglich einzelne Fragen geklärt worden sind. Außerdem gibt der Beitrag einen Ausblick, zu welchen Fragen eine Klärung durch den EuGH zu erwarten ist.


I. Einleitung

II. Die BGH-Entscheidungen v. 30.8.2022

1. Rücktritt von Flusskreuzfahrt (X ZR 66/21)

a) COVID-19-Pandemie als unvermeidbarer, außergewöhnlicher Umstand

b) Maßgeblicher Zeitpunkt für die erhebliche Wahrscheinlichkeit einer erheblichen Beeinträchtigung

c) Indizwirkung von Reisewarnungen des Auswärtigen Amts

d) Würdigung aller im Einzelfall relevanten Umstände statt pauschale Beurteilung

2. Rücktritt von Mallorca-Reise (X ZR 84/21)

III. Verhältnis zur instanzgerichtlichen Rechtsprechung

1. Quarantänemaßnahmen und Einreisebeschränkungen

2. Reisewarnungen

3. Prognoseentscheidung

4. Rücktritt nach Ausbruch der Pandemie

IV. Die beim EuGH anhängigen Verfahren

1. Rücktritt ohne Rücktrittsgebühren bei nach Rücktritt auftretender Beeinträchtigung?

2. Gutschein statt Rückzahlung?

3. Beeinträchtigungen im Hotel

V. Andere Bewertung zwei Jahre nach Ausbruch der Pandemie?

VI. Fazit


I. Einleitung

Der BGH hat sich zwar in vier Entscheidungen mit den Auswirkungen der COVID-19-Pandemie im Reiserecht beschäftigt. Den Entscheidungen vom 30.8.2022 ging ein Vorlagebeschluss vom 2.8.2022 gem. Art. 267 AEUV an den EuGH voraus, so dass insoweit die Entscheidung des EuGH abzuwarten ist. Deshalb wurde mit Beschluss vom 30.8.2022 ein weiteres Verfahren ausgesetzt.

In diesem Beitrag werden zunächst die beiden Urteile vom 30.8.2022 analysiert (II.). Sodann wird der Frage nachgegangen, ob durch dieses Urteil grundsätzliche Fragen geklärt werden konnten, oder ob der BGH aufgrund der zur Revisionsentscheidung anstehenden Fälle nur einzelne Fragen klären konnte, so dass der instanzgerichtlichen Judikatur nach wie vor erhebliche Bedeutung zukommt. Es zeigt sich, dass der BGH in vielen Fragen auf von den Instanzgerichten und der Literatur bereits herausgearbeitete Positionen zurückgreifen und sie mit der Autorität des höchsten deutschen Zivilgerichts versehen konnte (III.).

Dies gilt aber nicht für alle Probleme, denn der BGH legte mit Beschluss vom 2.8.2022 5 dem EuGH Fragen zur Vorabentscheidung gem. Art. 267 AEUV vor, bei deren Begründung er deutlich von der in Deutschland bislang überwiegenden Meinung abweicht. Im Gegensatz zur h.M. sieht er nämlich eine erhebliche Beeinträchtigung, die auf unvermeidbare, außergewöhnliche Umstände zurückgeht, auch dann als einen Grund für einen entschädigungsfreien Rücktritt i.S.d. § 651h Abs. 3 BGB an, wenn die Umstände erst nach dem Rücktritt, aber vor Reisebeginn, auftreten (IV. 1.).

Der EuGH wird sich nicht nur mit der Vorlage des BGH befassen müssen, sondern auch mit einer Vorlage des österreichischen OGH mit derselben Fragestellung. Darüber hinaus sind beim EuGH zahlreiche weitere Vorlageverfahren zur Auslegung der Pauschalreiserichtlinie in Corona-Zeiten anhängig, vor allem zur Zulässigkeit von Gutscheinen. Der EuGH hat allerdings noch keines dieser Verfahren entschieden, und nur in zwei Fällen liegen bislang die Schlussanträge der Generalanwältin vor (IV. 2. und 3.).

Auch die Rechtsprechung zum Pauschalreiserecht und COVID-19 erfolgt in Wellen. Die erste Welle kam von den Instanzgerichten. Sie scheint abgeschlossen; für die zweite Welle der Pandemie, also Rücktritte im Frühsommer 2020 für geplante Sommerreisen, gibt es nur wenige Entscheidungen. Im Jahre 2022 veröffentlichte Urteile beziehen sich fast immer auf die erste Welle, also unmittelbar nach dem Ausbruch der Pandemie erfolgte Rücktritte. Die zweite Welle in der Rechtsprechung ging von den vier Entscheidungen des BGH vom August 2022 aus, die im Mittelpunkt dieses Beitrags stehen. Auch sie scheint abgeschlossen; es ist nicht ersichtlich, dass weitere Fälle auf den BGH zukommen. Die dritte Welle steht dagegen noch aus. Sie wird vom EuGH kommen, wenn er die Vorlageverfahren entscheidet. In diesem Beitrag kann daher nur eine Zwischenbilanz gezogen werden (V.).

Der Beitrag beschränkt sich zudem auf das Pauschalreiserecht. Selbstverständlich sind Liquiditätsprobleme infolge der wegen der COVID-19-Pandemie ergriffenen Maßnahmen auch bei Luftbeförderern und Hotelbetrieben aufgetaucht. Sie führten aber nicht zu Gerichtsentscheidungen.

II. Die BGH-Entscheidungen v. 30.8.2022

1. Rücktritt von Flusskreuzfahrt (X ZR 66/21)


Das Urteil betrifft eine am 17.1.2020 gebuchte Flusskreuzfahrt, die im Juni 2020 stattfinden sollte. Die 84 Jahre alte Klägerin stornierte die Reise am 7.6.2020. Die Reise wurde mit einem angepassten Hygienekonzept durchgeführt.

Der BGH klärt in dem Urteil einige grundsätzliche Fragen. (...)
 



Verlag Dr. Otto Schmidt vom 10.01.2023 15:51
Quelle: Verlag Dr. Otto Schmidt

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