BGH v. 1.3.2023 - XII ZB 18/22

Zur Vermutung fehlenden Verschuldens bei unterbliebener Rechtsbehelfsbelehrung

Die Vermutung fehlenden Verschuldens, wenn eine Rechtsbehelfsbelehrung unterblieben oder fehlerhaft ist, entfällt im Falle der Vertretung durch einen Rechtsanwalt nur dann, wenn sich das anwaltliche Mandat auf die Angelegenheit bezieht.

Der Sachverhalt:
Der Antragsteller (Ehemann) begehrt die Abänderung einer Entscheidung zum Versorgungsausgleich im Wege einer "Totalrevision" nach § 51 Abs. 1 VersAusglG. Seine 1979 geschlossene Ehe wurde mit Urteil des Familiengerichts vom 25.9.2007 rechtskräftig geschieden und der Versorgungsausgleich geregelt. Während der Ehezeit (1.7.1979 bis 31.12.2006) hatten beide Ehegatten Anrechte in der gesetzlichen Rentenversicherung erworben, außerdem die Ehefrau Anrechte in der öffentlich-rechtlichen Zusatzversorgung und der Ehemann Anrechte bei der Deutschen Telekom. Das Familiengericht führte den Versorgungsausgleich im Wege des Quasi-Splittings durch, indem es zulasten des Anrechts des Ehemanns bei der Deutschen Telekom ein Anrecht der Ehefrau in der gesetzlichen Rentenversicherung i.H.v. rd. 250 € mtl., bezogen auf das Ende der Ehezeit, begründete.

Die frühere Ehefrau heiratete im Juli 2011 den Beteiligten zu 4) und verstarb am 21.5.2018. Der Beteiligte zu 4) bezieht aus dem Versorgungsanrecht der früheren Ehefrau eine sog. große Witwerrente. Mit Antrag vom 10.7.2018 begehrt der Ehemann eine Abänderung der Entscheidung über den Versorgungsausgleich. Er beruft sich auf eine wesentliche Änderung des Werts der gesetzlichen Rentenversicherung seiner Ehefrau und erstrebt im Hinblick auf deren Vorversterben eine Rückgängigmachung des gesamten Versorgungsausgleichs. Das AG - Familiengericht - änderte nach Anhörung der Versorgungsträger, jedoch ohne Hinzuziehung des Beteiligten zu 4) zum Verfahren, durch Beschluss vom 17.5.2019 das Urteil vom 25.9. mit Wirkung vom 1.8.2018 dahin ab, dass ein Versorgungsausgleich nicht stattfinde. Die Entscheidung enthält die Rechtsbehelfsbelehrung: "Gegen diese Entscheidung kann innerhalb von einem Monat Beschwerde beim Amtsgericht B., [Anschrift], eingelegt werden". Die Entscheidung wurde dem Beteiligten zu 4) nicht bekannt gegeben.

Mit Bescheid vom 4.2.2020 setzte der Träger der gesetzlichen Rentenversicherung die Witwerrente des Beteiligten zu 4) im Hinblick auf die ergangene Abänderungsentscheidung zum Versorgungsausgleich neu fest und forderte den Beteiligten zu 4) zur Rückzahlung überzahlter Rentenbeträge auf. Hiergegen legte der Beteiligte zu 4) Widerspruch ein und nahm durch einen Rechtsanwalt im April 2020 Einsicht in die Verwaltungsakte des Versorgungsträgers sowie im Mai 2020 Einsicht in die Gerichtsakte des Abänderungsverfahrens zum Versorgungsausgleich. Am 21.8.2020 legte der Beteiligte zu 4) Beschwerde gegen die familiengerichtliche Entscheidung über die Abänderung des Versorgungsausgleichs ein.

Das OLG verwarf die Beschwerde als unzulässig. Auf die Rechtsbeschwerde des Beteiligten zu 4) hob der BGH den Beschluss des OLG auf, gewährte dem Beteiligten zu 4) Wiedereinsetzung in den vorigen Stand und verwies die Sache zur erneuten Behandlung und Entscheidung an das OLG zurück.

Die Gründe:
Die Wahrung einer Frist muss nicht abschließend geklärt werden, wenn jedenfalls die Voraussetzungen für eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand vorliegen. So liegt der Fall hier, da der Beteiligte zu 4) eine etwa vor dem Eingang seines Rechtsmittels abgelaufene Beschwerdefrist jedenfalls nicht verschuldet versäumt hat. Eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumung von Rechtsbehelfsfristen in Familiensachen kommt nach § 17 Abs. 1 FamFG in Betracht, wenn der Verfahrensbeteiligte die Frist ohne sein Verschulden versäumt hat.

Bei einem rechtsunkundigen Beteiligten kann ein Verschulden insbesondere dann entfallen, wenn ihm keine zutreffende Rechtsbehelfsbelehrung erteilt worden ist. Nach § 17 Abs. 2 FamFG wird deswegen ein Fehlen des Verschuldens vermutet, wenn eine Rechtsbehelfsbelehrung unterblieben oder fehlerhaft ist. Im vorliegenden Fall war die Rechtsbehelfsbelehrung fehlerhaft, weil darin schon nicht die nach § 39 Satz 1 FamFG erforderlichen Angaben über die bei der Einlegung des Rechtsbehelfs einzuhaltende Frist enthalten waren. Denn die Belehrung, dass gegen die Entscheidung innerhalb von einem Monat Beschwerde eingelegt werden kann, lässt nicht ausreichend erkennen, wann diese Frist beginnt. Ein rechtsunkundiger Leser könnte eine so gefasste Belehrung dahin auffassen, dass die Frist bereits am Tag des angegebenen Beschlussdatums beginnt, und bei dem Beteiligten zu 4) im Zeitpunkt seiner ersten Kenntnisnahme von dem Beschluss die falsche Vorstellung ausgelöst haben, alle Rechtsbehelfsfristen seien bereits abgelaufen.

Wenn der Beteiligte allerdings in der Sache anwaltlich vertreten ist, ist der Rechtsirrtum regelmäßig verschuldet und verhindert eine Wiedereinsetzung. Denn wegen der vorhandenen Kenntnisse des Rechtsanwalts ist ihm gegenüber ein vollständiger und zutreffender Hinweis auf die gesetzlichen Grundlagen des zulässigen Rechtsmittels ausreichend. Daraus folgt, dass eine Wiedereinsetzung in denjenigen Fällen ausgeschlossen ist, in denen der Beteiligte wegen der durch seinen Rechtsanwalt vermittelten Kenntnis über seine Rechtsmittel keiner Unterstützung durch eine Rechtsbehelfsbelehrung bedarf. Auf diese Weise wird vor allem der geringeren Schutzbedürftigkeit anwaltlich vertretener Beteiligter Rechnung getragen.

Danach scheidet eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand jedoch vorliegend nicht aus. Denn der Beteiligte zu 4) war in der Vorinstanz nicht beteiligt worden und nicht anwaltlich vertreten. Zwar hat ein Rechtsanwalt für ihn die Verwaltungsakte des Versorgungsträgers und die Gerichtsakte des Abänderungsverfahrens eingesehen und dabei Kenntnis von dem ergangenen Beschluss erlangt. Diese Einsichtnahmen erfolgten aber nicht im Rahmen einer Rechtsvertretung im familiengerichtlichen Abänderungsverfahren, sondern ausdrücklich im Rahmen einer Rechtsvertretung im sozialrechtlichen Widerspruchsverfahren gegen den vom Versorgungsträger abgeänderten Rentenbescheid.

Die die Vermutungswirkung des § 17 Abs. 2 FamFG widerlegende Zurechnung anwaltlicher Kenntnisse über einen zulässigen Rechtsbehelf setzt indessen ein darauf bezogenes Mandatsverhältnis voraus. Ein solches besteht, wenn der Rechtsanwalt den Beteiligten im familiengerichtlichen Ausgangsverfahren vertreten hat. Gegenstand dieses Mandats ist es nämlich auch, den Mandanten zutreffend über die formellen Voraussetzungen eines gegebenen Rechtsbehelfs zu belehren. Anders liegt der Fall jedoch, wenn der Rechtsanwalt wie hier ausdrücklich in Wahrnehmung eines sozialversicherungsrechtlichen Mandats Akteneinsicht in die familiengerichtliche Gerichtsakte nimmt und hierbei Kenntnis von einer familiengerichtlichen Entscheidung erlangt. Denn das Mandat für das sozialrechtliche Widerspruchsverfahren umfasst nicht die Überprüfung von Rechtsbehelfsmöglichkeiten.

Mehr zum Thema:

Kommentierung | FamFG
§ 117 Rechtsmittel in Ehe- und Familienstreitsachen
Lorenz in Zöller, Zivilprozessordnung, 34. Aufl. 2022

Kommentierung | ZPO
§ 233 Wiedereinsetzung in den vorigen Stand
Greger in Zöller, Zivilprozessordnung, 34. Aufl. 2022

Enthalten im umfassenden Aktionsmodul Zivilrecht:
Sie können Tage nicht länger machen, aber effizienter. 6 Module vereint mit führenden Kommentaren, Handbüchern und Zeitschriften für die zivilrechtliche Praxis. Topaktuelle Online-Aktualisierungen im Erman BGB. Zahlreiche, bewährte Formulare mit LAWLIFT bearbeiten! Inklusive Selbststudium nach § 15 FAO. 4 Wochen gratis nutzen!



Verlag Dr. Otto Schmidt vom 11.05.2023 13:40
Quelle: BGH online

zurück zur vorherigen Seite