OLG Brandenburg v. 8.2.2023 - 1 W 1/23

Auch scharfe und übersteigerte Äußerungen können in den Schutzbereich des Art. 5 Abs. 1 GG fallen

In Zweifelsfällen, in denen eine Trennung des wertenden vom tatsächlichen Gehalt den Sinn der Äußerung aufheben oder verfälschen würde, ist insgesamt von einer Meinungsäußerung auszugehen, wobei die Wahrheit oder Unwahrheit des Tatsachenkerns dann im Rahmen der vorzunehmenden Abwägung der schutzwürdigen Belange der streitenden Parteien zu berücksichtigen ist. Auch scharfe und übersteigerte Äußerungen fallen, namentlich im öffentlichen Meinungskampf, grundsätzlich in den Schutzbereich des Art. 5 Abs. 1 GG.

Der Sachverhalt:
Der Antragsteller ist ein Landkreis in Brandenburg und u.a. für die Unterbringung von Flüchtlingen verantwortlich. Die Antragsgegnerin betreibt die Online-Ausgabe einer Zeitung. Diese hatte in ihrer Druckausgabe einen Artikel über die Anmietung von Heimen für Flüchtlinge durch die Verwaltung des Antragstellers veröffentlicht. Dort hieß es u.a.: „Der Landkreis … hat seit 2015 Mietzahlungen in Millionenhöhe an Besitzer von Flüchtlingsunterkünften gezahlt. Profitiert haben davon vor allem zwei Geschäftsleute, die die Objekte jeweils kurz vor der Umwidmung gekauft hatten.“ Im Folgenden wurde näher über verschiedene Umstände zu den behaupteten Geschäften berichtet. Seitdem ist der Artikel auch in der von der Antragsgegnerin betriebenen Internetausgabe abrufbar.

Der Antragsteller wollte der Antragsgegnerin untersagen lassen, den Online-Artikel weiter zu veröffentlichen. Er war der Ansicht, der streitgegenständliche Artikel sei in mehreren Punkten falsch. Im Wesentlichen sei es unrichtig, dass von den Anmietungen der Kreisverwaltung mehrfach die gleichen Geschäftsleute begünstigt worden seien. Dies ergäbe sich bereits daraus, dass diese nicht - wie berichtet - im Zeitpunkt der Anmietungen bereits Vermieter der Heime gewesen seien, sondern diese erst viel später von den beiden Geschäftsleuten erworben worden seien. Darüber hinaus würden die Verfasser des Artikels bei den angestellten Berechnungen zu angeblich überhöhten Pachtzahlungen die durch die Verpächter hinsichtlich der Objekte getätigten Investitionen nicht berücksichtigen.

Das LG hat den Erlass einer einstweiligen Verfügung abgelehnt. Es war davon ausgegangen, dass es bereits an einem Verfügungsgrund fehle, weil der Antragsteller nach Kenntniserlangung von dem streitgegenständlichen Artikel mit der Antragstellung mehr als einen Monat zugewartet habe. Das OLG hat die Entscheidung bestätigt.

Die Gründe:
Es bedurfte hier keiner abschließenden Entscheidung zu der Frage des Verfügungsgrundes, denn der Antragsteller hat jedenfalls keinen Verfügungsanspruch gegen die Antragsgegnerin aus §§ 823 Abs. 1, 1004 Abs. 1 S. 2 BGB analog, so dass die beantragte einstweilige Verfügung aus diesem Grunde nicht zu erlassen war.

In der Rechtsprechung ist zwar allgemein anerkannt, dass auch juristische Personen des öffentlichen Rechts zivilrechtlichen Ehrschutz gegenüber Angriffen in Anspruch nehmen können, durch die ihr Ruf in der Öffentlichkeit in unzulässiger Weise herabgesetzt wird, auch wenn sie weder eine "persönliche" Ehre haben noch wie eine natürliche Person Träger des allgemeinen Persönlichkeitsrechts sein können. Sie genießen, wie § 194 Abs. 3 StGB zeigt, im Zusammenhang mit der Erfüllung ihrer öffentlichen Aufgaben strafrechtlichen Ehrschutz, der über §§ 1004, 823 Abs. 2 BGB i.V.m. §§ 185 ff. StGB zivilrechtliche Unterlassungsansprüche begründen kann. Tritt dieser Schutzzweck allerdings in einen Konflikt mit der Meinungsfreiheit, so ist deren Gewicht besonders hoch zu veranschlagen, weil dieses Grundrecht gerade aus dem besonderen Schutzbedürfnis der Machtkritik erwachsen ist und darin unverändert seine Bedeutung findet. Insoweit besteht ein Unterlassungsanspruch nur dann, wenn die konkrete Äußerung geeignet ist, die Behörde schwerwiegend in ihrer Funktion zu beeinträchtigen. Und dies war vorliegend nicht der Fall.

Wo Tatsachenbehauptungen und Wertungen zusammenwirken, wird grundsätzlich der Text in seiner Gesamtheit von der Schutzwirkung des Art. 5 Abs. 1 GG erfasst. Das bedeutet auch, dass bei Mischtatbeständen, d.h. bei Äußerungen, die sowohl Tatsachenbehauptungen als auch Elemente der Meinungsäußerung oder Werturteils enthalten, ein Herausgreifen einzelner Elemente nicht zulässig ist; für die vorzunehmende Abgrenzung ist vielmehr entscheidend, ob der Tatsachengehalt so substanzarm ist, dass die Äußerung insgesamt durch die Elemente der Stellungnahme, des Dafürhaltens und des Meinens geprägt ist, oder ob die Äußerung überwiegend durch den Bericht tatsächlicher Vorgänge ihre Prägung erfährt und beim Adressaten als Darstellung in die Wertung eingekleideter Vorgänge, die als solche einer Überprüfung mit den Mitteln des Beweises zugänglich sind, verstanden wird. In Zweifelsfällen, in denen eine Trennung des wertenden vom tatsächlichen Gehalt den Sinn der Äußerung aufheben oder verfälschen würde, ist insgesamt von einer Meinungsäußerung auszugehen, wobei die Wahrheit oder Unwahrheit des Tatsachenkerns dann im Rahmen der vorzunehmenden Abwägung der schutzwürdigen Belange der streitenden Parteien zu berücksichtigen ist.

Nach diesen Grundsätzen handelte es sich bei den streitgegenständlichen Äußerungen zwar um Tatsachenbehauptungen, diese waren für sich allein jedoch in keiner Weise geeignet, den Antragsteller herabzuwürdigen oder gar schwerwiegend in seiner Funktion zu beeinträchtigen. Zwar waren einige Äußerungen dem Grunde nach geeignet, den Antragsteller in seinem Ansehen herabzuwürdigen, weil ihm vorgeworfen wird, seine öffentlichen Aufgaben nicht ausreichend wahrzunehmen und ihm anvertraute Steuergelder verschwendet zu haben. Sie waren aber andererseits gerechtfertigt, weil die Autoren in Wahrnehmung berechtigter Interessen gem. § 193 StGB i.V.m. Art. 5 GG gehandelt hatten. Denn das Recht auf freie Meinungsäußerung gem. Art. 5 GG umfasst - ohne zunächst ausdrücklich zwischen "Werturteil" und "Tatsachenbehauptung" zu unterscheiden - das Recht für jedermann, frei sagen zu können, was er denkt, auch wenn er keine nachprüfbaren Gründe angibt oder angeben kann. Auch scharfe und übersteigerte Äußerungen fallen, namentlich im öffentlichen Meinungskampf, grundsätzlich in diesen Schutzbereich.

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Verlag Dr. Otto Schmidt vom 09.05.2023 10:45
Quelle: Landesrecht Brandenburg

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