Aktuell in der MDR

Der willkürliche Beweisantritt (Nissen/Elzer, MDR 2022, 1313)

Die Rechtsprechung hält es für möglich, einem Beweisantritt nicht nachgehen zu müssen. Dies soll dann der Fall sein, wenn der entsprechende Vortrag als „unschlüssig“ oder nicht „substanziiert“ anzusehen ist. Er sei in diesem Falle nur „aufs Geratewohl“ oder „ins Blaue“ aufgestellt worden und daher nicht zu berücksichtigen. In diesem Zusammenhang wird auch davon gesprochen, ein Beweisantritt diene allein einer „Ausforschung“ – was (auch) unzulässig sei. Insbesondere im „Abgasskandal“ scheint diese Beurteilung für viele Gerichte die einzige Möglichkeit geworden zu sein, den massenhaften Verfahren noch Herr zu werden. Der Beitrag nimmt diesen Befund zum Anlass, daran zu erinnern, wann ein Beweisantritt bereits vollständig ist und warum er ausnahmsweise dennoch unbeachtlich sein kann. Dabei wird der Versuch unternommen, die Begriffe zu schärfen, das Recht auf Beweis zu verteidigen und die engen Grenzen aufzuzeigen, innerhalb derer es zulässig ist, vollständige Beweisantritte als willkürlich zu verwerfen.


I. Einleitung

II. Der Umfang der Behauptungs-/Darlegungslast

1. Verfassungsrechtliche Grundlagen

2. Einfachrechtliche Ausgestaltung

a) Überblick

b) BGH-Rechtsprechung

c) Literatur

III. Die Zurückweisung von Beweisanträgen

1. Anforderungen und Grenzen dieser Rechtsfigur nach dem BGH

a) Überblick

b) Der Beweisermittlungsantrag („Ausforschungsantrag“)

c) Der Beweisantrag ins „Blaue hinein“

d) Einordnung

2. Literatur

IV. Behauptungs-/Darlegungslast und Ausforschungsbeweis im „Abgasskandal“

1. Überblick

2. Obergerichtliche Rechtsprechung

3. Sichtweise der Literatur

4. BGH-Rechtsprechung

5. Eigene Ansicht

a) Inhalt und Grenzen der Behauptungs-/Darlegungslast

b) Enge verfassungsrechtliche Grenzen einer Zurückweisung

aa) Überblick

bb) Beweisermittlungsanträge („Ausforschungsantrag“)

cc) Willkürliche Beweisantritte („aufs Geratewohl“ bzw. „ins Blaue“)

dd) Prozessuale Wahrheitspflicht

c) Gleichlauf der Behauptungs-/Darlegungslasten in jedem Zivilprozess

V. Fazit


I. Einleitung

Nach der ZPO obliegt es den Parteien eines Zivilprozesses, die von ihnen behaupteten streitigen Tatsachen als Grundlage der von ihnen behaupteten Rechte nachzuweisen. Als Vorstufe haben die Parteien nach § 138 Abs. 1 ZPO ihre Erklärungen über tatsächliche Umstände vollständig und der Wahrheit gemäß abzugeben. „Vollständig“ ist eine Erklärung nach allgemeiner Ansicht, wenn die Partei Tatsachen vorträgt, die in Verbindung mit einem Rechtssatz geeignet sind, das geltend gemachte Recht oder Gegenrecht als in ihrer Person entstanden erscheinen zu lassen. Fehlt es daran, ist eine Erklärung unvollständig. Anstelle dieses Begriffes ist er nach üblicher Diktion indes „unschlüssig“ oder „unsubstanziiert“. Diese Wortwahl ist abzulehnen. Sie ist jeweils vorkonstitutionell, offensichtlich schwammig sowie gegenüber Wertungen offener als das schlichte, aber doch präzise „unvollständig“, welches die ZPO gewählt hat.

Die solchermaßen beschriebene Behauptungs-/Darlegungslast, vollständig vortragen zu müssen, ist ein Nadelöhr. Dieses muss eine Partei passieren, um bei einem Streit über eine Tatsache zu erzwingen, dass über ihre Behauptung mit den von ihr genannten Mitteln Beweis erhoben wird. Neben den Präklusionsbestimmungen bietet diese Last im positiven Fall ein wirkungsvolles Korrektiv gegen eine Prozessverzögerung. Im negativen Fall kann die Behauptungs-/Darlegungslast aber auch missbraucht werden. So liegt es, wenn der Umfang der geforderten „Substanziierung“ dazu eingesetzt wird, eine arbeits- und zeitaufwendige Beweisaufnahme zu umgehen, obwohl ein beachtlicher Vortrag anzuerkennen ist. Diese Problematik betrifft im Grundsatz jeden Zivilprozess vor deutschen Gerichten und sie ist dementsprechend keine neue Erscheinung. In jüngster Zeit hat die Frage nach dem Umfang der Behauptungs-/Darlegungslast als Voraussetzung einer Beweisaufnahme indes durch die Erhebung tausender Klagen im „Abgasskandal“ besondere Bedeutung erlangt. In den Prozessen behaupten die klagenden Parteien in der Regel nämlich eine Vielzahl von „Abschalteinrichtungen“. Die Instanzgerichte begegnen dieser stets streitigen Tatsache gern mit der Behauptung, der Fahrzeugkäufer habe die konkrete „Abschalteinrichtung“ „unsubstanziiert“ – mithin bloß unvollständig – behauptet.

II. Der Umfang der Behauptungs-/Darlegungslast

1. Verfassungsrechtliche Grundlagen


Ein Bemühen, einfach-gesetzliche Anforderungen zur Behauptungs-/Darlegungslast zu formulieren, ist an den verfassungsrechtlichen Vorgaben zu messen. Diese finden sich nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung im Recht auf rechtliches Gehör aus Art. 103 Abs. 1 GG. Das Recht auf rechtliches Gehör gewährleistet nach Ansicht des BVerfG ein Recht auf (...)
 



Verlag Dr. Otto Schmidt vom 17.11.2022 07:37
Quelle: Verlag Dr. Otto Schmidt

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