Aktuell in der MDR

Umfang und Grenzen staatlicher Ersatz- und Entschädigungsleistungen in Pandemiezeiten (Itzel, MDR 2022, 729)

Die behördlichen Betriebsschließungen zur Bekämpfung der Corona-Krise haben bei zahlreichen Branchen zu erheblichen finanziellen Einbußen geführt. Dementsprechend stellen sich Fragen nach Ersatz‑, Entschädigungs- und Kompensationsleistungen. Nach einer Entscheidung des BGH zum Umfang des Versicherungsschutzes von Betriebsschließungs-Versicherungen (BGH v. 26.1.2022 – IV ZR 144/21, MDR 2022, 313; Sahlender, MDR 2022, 529) hat der BGH sich nunmehr mit den Möglichkeiten einer staatlichen Entschädigung befasst. Der folgende Beitrag erläutert die Hintergründe und wirft einen Blick auf tragfähige Modelle und Lösungsansätze.


I. Einleitung

II. Systematik der staatlichen Ersatz- und Entschädigungsregelungen für Pandemien nach der BGH-Entscheidung

1. Die Entscheidung des BGH

2. Anspruchsnormen nach dem Infektionsschutzgesetz (IfSG)

a) Striktes Exklusivverhältnis zwischen Seuchenverhütungs- und Seuchenbekämpfungsmaßnahmen

b) Keine Übertragbarkeit von Entschädigungsansprüchen für „bestimmte Beeinträchtigungskonstellationen“ auf andere Sachverhalte

aa) Keine erweiternde Auslegung des § 56 IfSG

bb) Keine analoge Anwendung des § 56 IfSG

3. Weitere Anspruchsgrundlagen bei rechtmäßigen Eingriffen

a) Keine Entschädigung nach Polizei- bzw. Ordnungsbehördenrecht

b) Keine Ansprüche aus enteignungsgleichem und enteignendem Eingriff

c) Anordnung einer „massenhaften und großvolumigen Entschädigung“ nur durch Gesetzgeber

d) Keine Ableitung von Ansprüchen aus den Grundrechten

4. Ansprüche bei rechtswidrigen Eingriffen

5. Argumentationsstruktur der BGH-Entscheidung

6. Zusammenfassung

III. Offene Fragestellungen

1. Entschädigung für Quarantäne-Maßnahmen

2. Impfschäden

3. Ansprüche bei rechtswidrigen Eingriffen

4. Gerichtliche Zuständigkeiten

5. Abwicklung von „Massenverfahren“

6. Weitere Entschädigungsregelungen

7. Erstattungsansprüche der Arbeitgeber nach § 56 ff. IfSG

IV. Zivilrechtliche Festlegungen jenseits staatlicher Leistungen – im Überblick

1. Betriebsversicherungen

2. Vertragsanpassungen

V. Ausblick, Lösungsansätze

1. Modelle für die Bewältigung von Großschadensereignissen

2. Lösungsansatz

VI. Fazit


I. Einleitung

Neben den nach wie vor unmittelbar und sicherlich primär interessierenden gesundheitlichen, medizinischen und sozialen Fragestellungen rund um das leider nach wie vor aktuelle Pandemiegeschehen rückten und rücken doch auch Fragen nach staatlichen Ersatz‑, Entschädigungs- und Kompensationsleistungen für geschädigte Betriebe und Personen in den Fokus von Wissenschaft und Rechtspraxis. Der BGH hat nun in einer intensiv und überzeugend begründeten Entscheidung für einen Großteil dieser Fälle für Klarheit gesorgt, wobei er im Kern zahlreichen Instanzgerichten wie auch der ganz überwiegenden Auffassung in Wissenschaft und Literatur folgt.

Im Folgenden werden auf Grundlage dieser Entscheidung die Systematik der einschlägigen Ansprüche sowie die nun geregelten Entschädigungskonstellationen dargestellt (unter II.). Im Weiteren werden vom BGH bislang nicht abschließend entschiedene Fallgestaltungen im Rahmen der Pandemiebekämpfung aufgezeigt (unter III). Es folgt (unter IV) eine kurze Übersicht zu rein zivilrechtliche Fragestellungen wie die nach Eingreifen von Betriebsschließungsversicherungen und Vertragsanpassungen über § 313a BGB. Den Abschluss (unter V.) bilden erste Überlegungen für eine tragfähige zukunftsorientierte Lösung der entstandenen gesellschaftsweiten Entschädigungs- und Ausgleichsproblematik.

Dabei ist auch schon hier für den gesamten Problembereich darauf hinzuweisen und zu berücksichtigen, dass das Infektionsschutzrecht historisch und primär lokale Ausbrüche von Seuchen u.a. steuern sollte und nicht auf eine bundesweite, die gesamte Bevölkerung betreffende Gefahrenlage ausgerichtet war und ist.

II. Systematik der staatlichen Ersatz- und Entschädigungsregelungen für Pandemien nach der BGH-Entscheidung

1. Die Entscheidung des BGH


Der (nicht erkrankte) Kläger musste im Frühjahr 2020 auf Grund staatlicher Maßnahmen zur Bekämpfung des Coronavirus seinen Gaststätten- und Hotelbetrieb vorübergehend teilweise schließen. Während der Schließung bot er Speisen und Getränke im Außerhausverkauf an. Die Beherbergung für „notwendige gewerbliche Zwecke“ blieb zulässig. Er erhielt 60.000 € als staatliche Soforthilfe und gibt an, in der fraglichen Zeit noch Umsätze in nennenswerte Höhe durch seine weiter zulässigen gewerblichen Aktivitäten erzielt zu haben. Er verlangt durchgängig die Zahlung von rd. 27.000 € sowie die Feststellung der weiteren Ersatz- und Entschädigungspflicht des beklagten Landes Brandenburg. Er begründet dies mit existenzbedrohenden nicht gedeckten Kosten (Betriebskosten, Arbeitgeberbeiträge u.a.) und Verdienstausfällen.

Sowohl vor dem LG Potsdam wie auch bei dem Bandenburgischen OLG hatte seine Klage keinen Erfolg. Das OLG hat die Revision wegen der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache und zur Fortbildung des Rechts zugelassen (§ 543 Abs. 1 Nr. 1 u. Nr. 2. ZPO).

Der BGH hat nun in seinem Urteil vom 17.3.2022 die Revision zurückgewiesen und sich eingehend und überzeugend mit den möglichen, denk- und konstruierbaren Ansprüchen in und für diese Fallkonstellation auseinandergesetzt und insoweit in Ergebnis wie auch in Begründung die Vorinstanzen wie auch die Rechtsprechung weiterer Zivilgerichte mit einer wirklich intensiven Argumentationstiefe überzeugend bestätigt.

Insoweit kann für diese Fälle der Ersatz- und Entschädigungsforderungen bei rechtmäßigen staatlichen Betätigungsverboten im Gewerbebereich zur Seuchenbekämpfung von einer (hoffentlich) Rechtfrieden stiftenden abschließenden Entscheidung ausgegangen werden.

2. Anspruchsnormen nach dem Infektionsschutzgesetz (IfSG)

Im Fokus der BGH-Entscheidung stehen Ersatz- und vor allem Entschädigungsansprüche nach dem hier einschlägigen Sonder-Polizeirecht, dem Infektionsschutzgesetz. Dabei geht der BGH von folgenden Obersätzen aus: (...)
 



Verlag Dr. Otto Schmidt vom 30.06.2022 12:51
Quelle: Verlag Dr. Otto Schmidt

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