BGH v. 4.5.2022 - XII ZB 50/22

Betreuungsrecht: Wann muss das Beschwerdegericht den Betroffenen erneut anhören?

Ist das AG nach Anhörung des Betroffenen davon ausgegangen, dass dieser der Einrichtung einer Betreuung zustimmt und hat es sich deshalb nicht die Frage vorgelegt, ob eine Betreuung gegen den Willen des Betroffenen angeordnet werden kann, hat das Beschwerdegericht den Betroffenen erneut anzuhören, wenn dieser mit seiner Beschwerde gegen den Betreuungsbeschluss zu erkennen gegeben hat, dass er mit der Betreuung tatsächlich nicht oder nicht mehr einverstanden ist.

Der Sachverhalt:
Das AG richtete für die 1939 geborene Betroffene wegen einer dementiellen Erkrankung nach Einholung eines psychiatrischen Sachverständigengutachtens und nach persönlicher Anhörung eine Betreuung mit umfassendem Aufgabenkreis ein. Im Betreuungsbeschluss ist ausgeführt, dass die Betreuerbestellung "nicht gegen den Willen" der Betroffenen erfolgt sei.

Die auf den Wegfall des "Entmündigungsbeschlusses" zielende Beschwerde der Betroffenen wies das LG zurück, ohne diese erneut anzuhören.

Die dagegen gerichtete Rechtsbeschwerde der Betroffenen hatte Erfolg. Der BGH hob die angefochtene Entscheidung auf und wies die Sache an das Beschwerdegericht zurück.

Die Gründe:
Zu Recht rügt die Rechtsbeschwerde, dass die Beschwerdeentscheidung verfahrensfehlerhaft ergangen ist. Das Beschwerdegericht hätte die Betroffene erneut anhören müssen.

Die Pflicht zur persönlichen Anhörung des Betroffenen besteht nach § 68 Abs. 3 Satz 1 FamFG grundsätzlich auch im Beschwerdeverfahren. Zwar räumt § 68 Abs. 3 Satz 2 FamFG dem Beschwerdegericht auch in einem Betreuungsverfahren die Möglichkeit ein, von einer erneuten Anhörung des Betroffenen abzusehen. Dies setzt jedoch u.a. voraus, dass von einer erneuten Anhörung im Beschwerdeverfahren keine neuen Erkenntnisse zu erwarten sind. Neue Erkenntnisse sind nach st. Rspr. des BGH insbesondere dann zu erwarten, wenn der Betroffene an seinem in der amtsgerichtlichen Anhörung erklärten Einverständnis mit einer Betreuung im Beschwerdeverfahren nicht mehr festhält (vgl. BGH v. 31.7.2019 - XII ZB 108/19).

Gemessen daran durfte das Beschwerdegericht nicht von der persönlichen Anhörung der Betroffenen absehen. Mit der Einlegung der Beschwerde hat die Betroffene indessen unmissverständlich zu erkennen gegeben, mit der Anordnung einer Betreuung nicht mehr einverstanden zu sein.

Wenn das Beschwerdegericht darauf abstellen will, dass die Betroffene schon in erster Instanz nur mit der Person der Betreuerin, nicht aber mit der Betreuungsanordnung als solcher (ausdrücklich) einverstanden gewesen sei, lässt dies seine Verpflichtung zur erneuten persönlichen Anhörung der Betroffenen nicht entfallen.

Legt sich - wie hier - das Beschwerdegericht erstmals im Rechtsmittelverfahren die Frage vor, ob der Betroffene zur Bildung eines freien Willens in der Lage ist, sind durch eine erneute persönliche Anhörung regelmäßig zusätzliche Erkenntnisse i.S.d. § 68 Abs. 3 Satz 2 FamFG zu erwarten, weil sie die nunmehr erforderlich werdende kritische Würdigung des Sachverständigengutachtens zu diesem Punkt ermöglichen.

Mehr zum Thema:

Entscheidung des BGH im Volltext:
BGH v. 4.5.2022 - XII ZB 50/22

Kommentar zu § 68 Abs. 3 Satz 2 FamFG:
Absehen von mündlicher Verhandlung oder sonstigen Verfahrenshandlungen
Abramenko in Prütting/Helms, FamFG, Kommentar, 5. Aufl.

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Verlag Dr. Otto Schmidt vom 29.06.2022 14:45
Quelle: BGH online

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